Videokonferenzen – mit „Luft nach oben“
(Autor: Dr. Jochen Brems)
Ich muss schon zugeben: als ich das erste Mal im März letzten Jahres an einem Online-Meeting teilnahm, war ich ziemlich begeistert. Wie leicht das geht! Wieviel Zeit und Aufwand man sich sparen kann! Und wie gut diese Technologie unserer Umwelt tut! Es war ein bisschen so wie mit dem ersten Smartphone, das ich in den Händen hielt. Eine rundherum tolle Erfindung!
Jetzt, 12 Monate und gefühlt 300 Online Meetings später, hat sich meine Begeisterung merklich gelegt. Und auch das ist so, wie mit dem Smartphone: wir müssen uns als Gesellschaft überlegen, wie wir im Alltag mit dieser Technik umgehen wollen – wofür sie gut ist, wie wir uns zu ihr verhalten wollen und wo ihre Grenzen sind. Dafür gibt es natürlich schon längst professionelle Coaches. Die erklären, wie wir uns richtig in Szene setzen können, welches Licht wir wie einsetzen sollten und was es in Bezug auf die „witzigen Hintergründe“ zu beachten gilt. Und doch gibt es aus meiner Sicht noch „viel Luft nach oben“.
Haarsträubendes Beispiel aus der VHS-Welt: Ein Video-Grußbotschaft unserer geschätzten Vorsitzenden des deutschen Volkshochschulverbandes, Annegret Kamp-Karrenbauer. Die Botschaft war sehr nett und bestimmt auch gut gemeint – aber wir sahen „AKK“ über ihren (wahrscheinlich privaten) Laptop gebeugt, mit schemenhaft dunklem Gesicht, wackligen Bild und verzerrten Proportionen. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt: heute macht sie das deutlich besser – da war dann wohl tatsächlich ein Coach am Werk. Geblieben sind diese Phänomene aber bis heute. Es gibt keine Videokonferenz an der ich teilnehme, bei der es keine dunklen Gesichter gibt, Leute vergessen, das Mikro stummzuschalten, während sie ihr Mittagsmüsli schlürfen oder ganz deutlich zu erkennen geben, dass sie gerade etwas ganz anderes machen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in 10 Jahren alte Aufzeichnungen unserer Konferenzen gucken und mit dem Kopf schütteln.
Und doch sind die Videokonferenzen ein Segen in diesen Corona-Zeiten! Und was hätten wir bisher ohne sie gemacht? Wir müssen halt alle ein bisschen üben, und das dürfen wir auch! So, wie mit den Smartphones. Ich erinnere mich daran, dass in der Anfangszeit viele Menschen während einer Sitzung damit beschäftigt waren, unaufhörlich in ihr Handy zu tippen. Wer als Sprecher Aufmerksamkeit erregen wollte, musste sie sich halt erstmal verdienen. Das ist heute anders. Wir haben gemerkt, dass das einfach unhöflich ist und lassen es weitgehend sein. Ähnlich wird es sehr wahrscheinlich auch bei den Videokonferenzen sein. Da werden wir uns vermutlich auch vermehrt fragen, welchen Eindruck wir bei den anderen erzeugen wollen. Gute Beispiele gibt es auch dafür genug! Ich finde es gut, wenn sich die Teilnehmer in meinem privaten Literaturkreis vor einer prallgefüllten Bücherwand positioniert haben oder wenn sich unser Verbandsdirektor gut ausgeleuchtet vor einem großen Landesverband-Aufsteller an uns wendet. Ja, ich weiß, das kann man konservativ finden und mich als formverliebten „Dino“ sehen, aber ich freue mich trotzdem darüber, dass ich das hier einfach mal schreiben darf.
Ach ja, und wenn ich schon mal dabei bin: Ich schlage vor, dass es auch bei einem privaten Meetings eine Person gibt, die die Moderation übernimmt. Die (sehr große) Familie meiner Frau mag es z. B., sich an Geburtstagen mit vielen Menschen zu einer Online-Konferenz zu treffen. Da gilt dann die Regel: wenn Du etwas sagen möchtest, dann musst Du Dich eben durchsetzen! Mhm, gut, aber wie wichtig ist es eigentlich, was ich den anderen gerade mitteilen möchte? Auch da bin ich ein bisschen old-fashioned und finde es deutlich netter, wenn jemand das Fragen übernimmt.
Es bleibt aber dabei, dass Videokonferenzen viel dazu beitragen, dass wir uns in diesen Zeiten nicht aus den Augen verlieren. Schön, wenn wir die kleinen noch offenen Herausforderungen annehmen und die Technik so einsetzen, dass die Begeisterung wieder mit voller Kraft von uns Besitz ergreifen kann!
Ganz liebe Grüße an alle von
Jochen Brems
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