VHS Henstedt-Ulzburg

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek

(Autorin: Birgit Raguse)

„Zwischen Leben und Tod liegt eine Bibliothek“, sagte sie. „Und diese Bibliothek besteht aus endlosen Regalen. Jedes Buch bietet dir die Chance, ein anderes Leben auszuprobieren, das dir offengestanden hätte. Jedes Buch bietet dir die Chance zu sehen, wie alles gekommen wäre, wenn du andere Entscheidungen getroffen hättest … Hättest du irgendetwas anders gemacht, wenn sich ungeschehen machen ließe, was du heute bereust?“

Neunzehn Jahre, bevor sie beschloss zu sterben.

Siebenundzwanzig Stunden, bevor sie beschloss zu sterben.

Neun Stunden, bevor sie beschloss zu sterben.

Sieben Stunden, bevor sie beschloss zu sterben.

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Punkt Mitternacht findet sich die 35jährige Nora in einer Bibliothek mit lauter grünen Büchern wieder, die in endlosen Reihen ohne ein sichtbares Ende auf den Regalen stehen. Und keines von ihnen hat einen Titel oder einen Verfasser auf dem Buchrücken stehen. Nora trifft auf eine Frau, in der sie die Schulbibliothekarin Mrs. Elm erkennt.

Diese erklärt ihr, dass alle diese Bücher ein mögliches Leben von Nora enthalten, wenn sie sich an irgendeinem Punkt anders entschieden hätte.

Was wäre geschehen, wenn sie Olympiaschwimmerin geworden wäre? Was, wenn sie ihren Verlobten nicht vor dem Altar hätte stehen lassen? Oder wenn sie mit ihrer Band den angebotenen Musikvertrag unterschrieben hätte?

Haig, Matt: Die Mitternachtsbibliothek München: Droemer 2021, 318 Seiten ISBN: 9783426282564

In Noras realem Leben hat ihre Angst vor dem Leben alle diese Möglichkeiten verhindert. Und in den letzten Stunden vor ihrer finalen Entscheidung trugen der Jobverlust, der spontane Tod ihrer Katze und ein Treffen mit einem ehemaligen Bandmitglied, der ihr deutlich macht, dass sie für sein schlechtes Leben verantwortlich sei, zu dieser bei. 

„Offenbar hatte Nora nicht einmal für den Tod Talent. Dieses Gefühl, in allem unvollkommen zu sein. Das unvollendete Puzzle eines Menschen. Unvollkommenes Leben und unvollkommenes Sterben. „Warum bin ich denn nicht tot? Warum ist der Tod nicht zu mir gekommen? Ich habe ihn doch geradezu eingeladen! Ich wollte sterben. Aber hier stehe ich und existiere immer noch.“ 

Mit Hilfe des „Buches des Bereuens“ taucht Nora in viele ihrer möglichen Leben ein. Sie besucht ihr Leben an der Seite ihres Mannes. Sie hält einen Vortrag vor vielen Besuchern als ehemalige Olympiasiegerin. Sie verjagt Eisbären auf einer Forschungsreise nach Spitzbergen im Leben mit ihrem Berufswunsch Glaziologin.

Dort trifft sie auf Hugo, der ebenfalls in der Zwischenwelt gefangen ist und ihr von sich und anderen „Slidern“ erzählt.

„Die Viele-Welten-Interpretation der Quantenphysik geht davon aus, dass es eine endlose Zahl verschiedener Paralleluniversen gibt. In jedem Moment unseres Lebens betreten wir ein neues Universum. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen.“

Nora stellt fest, dass sie bisher nur Bücher ausgesucht hat, in denen sie das Leben lebt, dass andere sich für sie gewünscht haben. Nun beginnt sie zu begreifen, dass sie sich ihr Leben selbst aussuchen muss.

Der britische Autor Matt Haig hat Erfahrungen mit Depressionen und Angststörungen. In seinen Büchern verarbeitet er diese Themen in Kombination mit Suizid, Familie und der Zeit. Andere Titel seiner Bücher lauten unter anderem „Nachricht von Dad“, „Ich und die Menschen“ und „Wie man die Zeit anhält“. Ihm wird nachgesagt, sein Genre sei düstere Phantastik, insbesondere spekulative Fiktion. Obwohl ich nur dieses Buch von ihm gelesen haben, kann ich das nur bestätigen. So schnell, wie mich das Buch in seinen Bann zog, so schnell fühlte ich mich irgendwie unwohl. Die Protagonistin ist ständig auf der Suche, fühlt sich fehl im Leben, und auch die Leben aus den Büchern sind unvollkommen. Sie landet dort im heute, mittendrin, aber ohne jegliche Erinnerung, wie sich ihr Leben bis dahin entwickelt hat.

Das Thema des Buches hat mich ständig dazu angeregt, meine eigenen Entscheidungen zu überdenken und mir auszumalen, welchen Weg mein eigenes Leben hätte einschlagen können.

Daneben ist das Buch gespickt mit philosophischen Aussagen, in der Hauptsache von Henry David Thoreau. Dies ist begründet aus dem Lebenslauf der Protagonistin, die Philosophie studiert hat. Ebenso gibt es zahlreiche fundierte wissenschaftliche Aussagen, die den jeweiligen Leben angepasst sind. 

Diese Kombination macht „Die Mitternachtsbibliothek“ zu etwas Besonderem. Es kann jedem ans Herz gelegt werden, der sich fiktiv mit alternativen Lebenswegen auseinandersetzen mag, ohne zu wissen, wie viele Chancen für eine andere Entscheidung noch bestehen … 

… denn irgendwann springt der Zeiger auf 00:00:01 ….