Und an den Rändern nagt das Meer

Autorin: Mirja Kahle

Und an den Rändern nagt das Meer – eine Meditation in Worten

Wenn man von der bekannten Seehundstation in Friedrichskoog noch etwas weiter nach Westen bis an die Spitze fährt, kann man dort wunderbar Drachen steigen lassen, auf dem neuen Platz Minigolf spielen, leckere Sylter Sahne in Meyer’s Eisbutze kaufen und dann im Strandkorb schlecken, bei gutem Wetter bis Büsum, Cuxhaven und Mittelplate gucken und den Trischendamm die ganzen zweieinhalb Kilometer bis zum Ende spazieren. Und bei klarer Sicht kann man von oben vom Deich auch Trischen selbst sehen, die 14km vor der Dithmarscher Nordseeküste gelegene unbewohnte Vogelinsel.

So unbewohnt ist sie allerdings gar nicht. Zwar besteht zwar tatsächlich offiziell ein Betretungsverbot, da Trischen in der Schutzzone 1 des Nationalparks Wattenmeer liegt. Von April bis Oktober, wohnt dort allerdings der Naturschutzwart des NABU mit einer Ausnahmegenehmigung  in einer Holzhütte auf Stelzen, die man auch ohne Fernglas vom Festland gut erkennen kann.

Als ich im Frühjahr wieder einmal meine Lieblingsbuchhandlung in Henstedt-Ulzburg durchstöberte fiel mir dabei das druckfrisch im Knesebeck Verlag erschienene Buch „Und an den Rändern nagt das Meer“  von Anne de Walmont in die Hände.  Anne de Walmont war 2019 die Vogelwartin auf Trischen. In kurzen Anekdoten nimmt sie ihre Leser mit auf „ihre Insel“, die für sieben Monate ihr Zuhause war.

„Das Wattenmeer ist auch bei Hochwasser an einigen Stellen nicht sehr tief, und die Priele, durch die Axel steuert, verlaufen in Schlangenlinien über den Meeresgrund. Da dauert die Überfahrt gute zwei Stunden. Genug Zeit, um runterzufahren, zurückzulassen, den Blick nach vorn zu richten, die Augen neu zu öffnen, die Sinne zu schärfen und tief zu atmen…“

Wenn der Wechsel von Ebbe und Flut zweimal täglich den Meeresboden freigibt, erstreckt sich das Watt zwischen den beiden Flussmündungen Elbe und Eider in fast unendlicher Weite. Mitten darin, ca. 14 km südwestlich von Büsum, liegt die einzige Insel des Dithmarscher Wattenmeeres. Trischen ist eine halbmondförmige Sandinsel mit kleinen Dünen im Westen und natürlichen Salzwiesen im Osten. Die Insel hat gegenwärtig bei Mitteltidehochwasser eine Größe von ca. 180 Hektar. (Quelle: NABU)

Bis heute wandert Trischen im langjährigen Durchschnitt etwa 30 Meter pro Jahr in Richtung Osten. Die Insel liegt daher heute ca. 10 km östlich ihres ursprünglichen Entstehungsortes und würde in 400 Jahren in Büsum am Deich ankommen, wenn sich die Wanderungsgeschwindigkeit nicht durch natürliche Prozesse verändern sollte.

 

Halte inne

Steht man in Friedrichskoog am Deich und hat dafür einen der weniger windigen und dafür etwas sonnigeren Tag erwischt, und ist man vielleicht sogar alleine dort zwischen den Schafen, wo die Salzwiesen beginnen, vielleicht sogar zu den Zeiten des Vogelzugs im Frühling oder Herbst, dann empfehle ich: Halte inne, atme tief und ruhig, schließe die Augen und höre, und beobachte dann, was du gehört hast. Nimm dir Zeit. Fühle den Wind. Spüre die Stille.

„Die Sonne scheint, es weht kein Wind. Langeweile? Was ist das denn?“

Dieses Buch ist keine, wie Anne de Walmont schreibt, populärwissenschaftliche Abhandlung über das Wattenmeer und die Vogelwelt der Nordsee. Stattdessen enthält es eine Aneinanderreihung von Erfahrungen und Beobachtungen, reinen Naturbeschreibungen und Berichten über die tägliche Arbeit, Gedanken über die Einflüsse des Menschen und die Auswirkungen des Klimawandels, Momenten des Insellebens während dreier Jahreszeiten und von  Beschreibungen so grundlegender Dinge wie Körperpflege bis hin zu Fridays for Future und Europawahl, Dekoration und Internetempfang. Manchmal kommt man sich tatsächlich vor wie ein Voyeur, der jemandem anderen ins Leben guckt. Und manchmal denkt man, man ist zu Besuch bei seiner Freundin und darf die Beobachtungen, Erfahrungen, Glücksgefühle, aber auch die traurigen oder ängstlichen Momente mit ihr teilen.

„…Ich schaue über die Insel, die ganz langsam erwacht. Die Sonne erhebt sich im Osten über dem entfernt liegenden Festland. Ich atme ein zweites Mal tief ein.

Und dann kommen sie auch schon….“

Perspektivwechsel

Die Berichte und Bilder, die Anne de Walmont in ihrem Buch zeigt, lassen einen teilhaben an der besonderen Zeit auf Trischen. Man lernt viel über die verschiedenen Vogelarten, wie sie brüten und die Jungen flügge werden. Und wo die toten Vögel bleiben. Über die Gefahren im und am Meer, natürlich und menschengemacht. Über die Pflanzenwelt und die stetige Veränderung von Lebensraum. Über kleine und große Wunder. Ich hatte mich immer schon gefragt, wie Watt-Kartografie geht und wie diese großen Schwärme verlässlich gezählt werden. Und dann schwang stets beim Gedanken an den Vogelwart, der dort ein Dreivierteljahr alleine Wind, Sonne und Regen ausgeliefert ist, so etwas wie Hochachtung bei gleichzeitigem Mitleid mit. Ich muss sagen, Mitleid habe ich nicht mehr. Stattdessen spüre ich fast etwas Neid, aber das ist ja nur die ehrlichste Form der Anerkennung…

„Ich sehe immer Himmel. Denn ich bin dort, wo der Meeresgrund den Horizont trifft. Und nichts versperrt mir die Sicht.“

Ich habe einen neuen Lieblingsvogel: Das Wintergoldhähnchen – eine Minifederkugel und der kleinste Vogel Europas. Auch das hat dieses Buch geschafft: Ich gehe selbst hier in Henstedt-Ulzburg ganz anders durch die Natur. Wann haben wir aufgehört, Kinder zu sein und zu sehen und zu staunen?

Eine Meditation in Worten. Das war das erste, das mir beim Lesen dieses Buches in den Kopf kam. Die Episoden sind zwar nach Jahreszeiten sortiert, entsprechend der Reise von Anne de Walmont durch das Jahr 2019, aber so kurz und bunt durcheinander, dass man gut einmal für eine oder nur wenige weitere Seiten in das Buch hineinschnuppern kann. Und nur wenige Kapitel, nur wenige Absätze genügen, um nach einem lauten, bunten, anstrengenden Tag das Gehirn ans Meer zu schicken. Man spürt die Stille, die dort draußen greifbar ist, man riecht das Salz in der Luft, man hört die Austernfischer. Ich sitze hier und schreibe und erlebe sogar jetzt all das. Und nehme mir vielleicht wieder ein bisschen von dieser Erholung in die Dunkelheit eines Adventsonntags.

„Anderswo am gleichen Tag. Eine Person sitzt allein vor einer Stelzenhütte und lässt den Blick über eine flache Insel schweifen. Es wird nicht gesprochen. Die Einzigen, die hier lautstark um die Ecke kommen, sind zeternde Vögel. Die Sicht ist klar, der Himmel bewölkt, der Wind kommt schwach aus Nordwest. Ein Tag wie jeder andere. Doch jeder Tag ist anders. Von hier findet kaum Vernetzung mit der Welt statt. Die Insel ist für sich. Sie ist das, was es zu schützen gilt.“

 

Mein Wunsch

Es gibt nicht mehr viele Orte, an denen die Natur noch Natur sein darf. Trischen ist einer davon. Ich wünsche mir, dass es wieder mehr solche Oasen gibt. Und ich wünsche mir, dass wir Menschen uns bewusster machen, was unsere Gewohnheiten für Auswirkungen haben, auch wenn wir die nicht sehen. Denn spüren werden wir sie irgendwann, wenn wir nicht aufpassen.

Bald ist Weihnachten. Das wünsche ich mir…

 

Wollt ihr mehr lesen?

https://schleswig-holstein.nabu.de/natur-und-landschaft/nabu-schutzgebiete/trischen/inselwelt/20489.html

https://blogs.nabu.de/trischen/

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