“Serotonin” – von Michel Houellebecq
(Autor: Dr. Jochen Brems)
Zu erklären, warum Michelle Houellebecq zu den erfolgreichsten Autoren der Gegenwartsliteratur zählt, ist nicht leicht, schließlich enthalten seine Bücher kaum irgendetwas Erbauliches. Stattdessen taucht man beim Lesen in eine Welt ein, die vor allem eines ist: depressiv, nihilistisch und fixiert auf (vor allem) männliche Sexualität.
Das neue Buch des französischen Skandalautors Michelle Houellebecq: Serotonin
In seinem neuen Roman „Serotonin“ erzählt der Protagonist Claude seine Lebensgeschichte. Ausgangspunkt seiner Erzählung, die eher den Charakter einer Lebensbeichte hat, ist, dass er im Alter von 46 Jahren unter so starken Depressionen leidet, dass die Einnahme eines neuen, besonders wirksamen Antidepressivums notwendig wird, um einfachste Verrichtungen des Alltags durchführen zu können. Das gelingt zunächst ganz gut. Eine der unliebsamen Nebenwirkungen des Medikaments besteht allerdings darin, dass es ihn seiner Libido beraubt. Ohne die Möglichkeit, Sexualität zu leben, verliert Claude seine ohnehin schon schwach ausgeprägte Haftung an die Welt. Auf seinem Weg in die absolute Einsamkeit nimmt er noch einmal Kontakt mit den wenigen Frauen in seinem Leben auf, die ihm etwas bedeutet haben – um dann zu erkennen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Die Chancen auf Glück sind endgültig vertan, die Einsamkeit unumkehrbar.
Houellebecq wäre aber nicht Houellebecq, wenn er nicht immer wieder in beredter Weise drastische Aussagen über Männer und Frauen, über die Wirkung von Sexualität oder gar den Sinn des Lebens machte. Da für die Helden seiner Bücher eine ausschweifende Sexualität die einzige Möglichkeit darstellt, um sich von der vollständigen Sinnlosigkeit ihrer eigenen Existenz abzulenken, kommt deren Verlust, sei es durch Krankheit oder durch Alter, einem frühzeitigen Todesurteil gleich. Die Libido erscheint also, zumindest im Querschnitt seiner Werke, als die einzige authentische Lebenskraft. Alles andere, was uns Menschen umgibt oder was wir konsumieren, sind bestenfalls Surrogate, um uns vor der Erkenntnis zu schützen, dass unser Tun sinnentleert und Glück nur eine Fiktion des menschlichen Geistes ist.
Garniert wird das Ganze in der Regel mit einem gesellschaftspolitischen Thema, das durch die Perspektive des „Helden“ diskutiert und immer wieder auch bewertet wird. In „Serotonin“ erfahren wir beispielsweise eine Menge über die Situation der französischen Landwirte, die angesichts der globalisierten Märkte kaum eine Chance haben, ihr Überleben zu sichern. Sie können „einpacken“, ihre Höfe aufgeben und sich fragen, wie sie jemals ihre angehäuften Schuldenberge zurückzahlen wollen.
Wer will das lesen?
Die Antwort: „Hundertausende!“ Wenige Tage, nachdem „Serotonin“ in Frankreich mit einer Erstauflage von 320.000 Exemplaren erschien war, musste der Verlag nachdrucken. Kurze Zeit später erfolgte die Übersetzung in über 40 Sprachen. Was ist es also, was Houellebecqs Romane so erfolgreich macht? Auch ich habe das Erscheinen seines neuen Romans mit Spannung und Vorfreude erwartet. Ist es vielleicht so etwas wie eine voyeuristische Lust, am Untergang von anderen teilzuhaben? Ist es die Beruhigung angesichts dieser dramatischen Seelenzustände, dass es einem selbst, trotz allem, deutlich besser geht? Oder fordert Houellebecq implizit den Leser dazu auf, seinerseits Position zu beziehen und seine negative Weltsicht zu widerlegen? Dann wäre er vielleicht so etwas wie ein „nihilistischer Sparringspartner“.
Interessanterweise stoße ich mit diesen Fragen (vor allem bei Frauen) überwiegend auf Ablehnung. „Frauenfeindlich“ und „neurotisch“ sind dabei die häufigsten Entgegnungen, um die weitere Diskussion knapp zu halten. Umso interessanter daher für mich die Frage, warum sich die Bücher dann doch erfolgreich in einer Gesellschaft verkaufen lassen, die so sehr um Gender Mainstreaming und Political Correctness bemüht ist?
Ein Buch für Midlife-Crisis-Männer?
Ich glaube, an all diesen Erklärung ist etwas dran, und doch möchte ich noch eine weitere Idee hinzufügen. So scheint mir das Phänomen der „Sexualität“ in Houellebecqs Romanen in einer eher jugendlichen Erlebniswelt erstarrt zu sein. Der identitätsstiftende Stellenwert, den Sex in den frühen Lebensjahren sehr vieler Menschen einnimmt (und zumeist mit der Selbst-Definition über körperlicher Attraktivität einhergeht), kann im Laufe des späteren Erwachsenenalters nicht mehr im gleichen Maße eingelöst werden. Stattdessen wird irgendwann ein Entwicklungsschritt notwendig, um auf eine andere Weise Sinn und Lebenswert zu erfahren.
Bei vielen Männern markiert die sogenannte „Midlife-Crisis genau diese Entwicklungsphase. Dieser Prozess, sofern er denn erfolgreich ist, mündet in der Erkenntnis, auch ohne einen jugendlichen Körper und eine damit verbundenen „Generalattraktivität“ Liebe und Anerkennung finden zu können. Aber genau dieser Schritt ist es, der den Helden in Houellebecqs Romanen nicht gelingt. Um das zum Ausdruck zu bringen, verwendet der Autor ein ganzes Arsenal von mentalen Bomben, die die unglücklichen Helden auf die Welt und schließlich auf sich selbst werfen.
Sie explodieren in Form von Wut, Zynismus, Depression oder in Form von entfesselten, paranoiden Sex-Fantasien. Der gereifte und so gut es geht geläuterte Leser steht dabei am Rand und schaut zu. Er weiß genau, was Houellebecq meint, er kennt den Schmerz. Und zugleich kann er sich distanzieren und froh darüber sein, dass bei ihm selbst die notwenige Reifung einigermaßen gelungen ist. Ich glaube, dass genau dieses Angebot, nämlich Voyeur eines Scheiterns zu sein, das bei einem selbst verhindert werden konnte, einen wesentlichen Reiz von Büchern wie Serotonin ausmacht. Die stimulierende Belohnung des Lesens besteht dann darin, die eigene Identitätsstiftung für gelungen zu befinden.
Aber vielleicht ist Claude, der Held von Serotonin, ja auch so etwas ein anarchistischer Stellvertreter, der den Finger auf Wunden legt, die zwar verpflastert, aber womöglich immer noch nicht verheilt sind? Für mich ist das Lesen von Houellebecq immer ein Anlass, mich selbst und meinen Standort im Leben zu reflektieren. Dabei erscheinen Fragen, wie „Wo stehe ich in Bezug auf meine eigene Vergänglichkeit?“, „Wie erzeuge ich Sinn?“ oder „Wie schütze ich mich vor Vereinsamung?“ Houellebecq selbst gibt darauf keinerlei Antworten, aber er provoziert existenzielle Fragen. Und genau das macht er eben, wie derzeit kaum ein anderer.
„Serotonin“ bekommt daher von mir eine klare Leseempfehlung. Ich bin gespannt auf Kommentare!
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