Rituale
(Autor: Dr. Jochen Brems)
Liebe Leserinnen und Leser,
vor einigen Tagen las ich eine Kolumne bei Spiegel Online, in der es um das Thema „Silvester feiern in Corona-Zeiten“ ging. Für den etwas übellaunig wirkenden Autor war es ein Segen, dass wir alle nicht wie üblich unsere Silvesterrituale pflegen konnten: keine betrunkenen und marodierenden Jugendlichen auf der Straße, kein sinnloses Herumgeböllere schon ab Nachmittag und keine angetrunken rührselige Stimmung im Kreise von Menschen, die meinen, dass der Wechsel der Jahreszahl irgendeine Bedeutung hätte. Stattdessen – viel besser – allein oder im engsten Familienkreis im heimischen Wohnzimmer, um den Abend irgendwie „über die Bühne zu bringen“ – Corona sei Dank!
Fast schon war ich nach dem Lesen bereit, eines meiner Prinzipien über den Haufen zu werfen und den Artikel auf der Spiegel-Seite spontan zu kommentieren (das mache ich lieber hier in unserer kuscheligen Kulturredaktion). Denn das, liebe Leserinnen und Leser, sehe ich tatsächlich vollkommen anders! Wenn ich eine wichtige Erfahrung der letzten Monate beschreiben sollte, dann wäre es gerade die, wie wichtig gemeinsame Rituale für uns Menschen sind und wie sehr sie uns gerade fehlen. Silvester ist dafür ein gutes Beispiel, finde ich. Gerade wenn wir alles weglassen, was wir mit dem Jahreswechsel verbinden, z. B. sich gute Vorsätze überlegen (von denen wir uns nach ein paar Tagen leider wieder verabschieden müssen), mit den Kindern rauszugehen und ein paar Böller zu zünden, mit Freunden und Bekannten zusammenzusitzen und vielleicht gemeinsam etwas „über die Stränge zu schlagen“ – ja, wenn man das alles weglässt, dann verliert der Jahreswechsel tatsächlich seine Bedeutung.
Auch als VHS haben wir auf vieles verzichten müssen, was für uns bedeutsam gewesen wäre, z. B. unsere große Feier zum 50. Jubiläum. Auch Jubiläen sind ein Ritual, von dem man vielleicht denken könnte: „Da werden doch nur ein paar Reden geschwungen und alle sind froh, wenn sie nach dem Essen wieder nach Hause gehen dürfen“. Klar, das sind Gedanken, die wir alle kennen, aber doch erinnern wir uns später gerne daran, dass so viele Menschen, die uns wichtig sind, dabei waren, als es darum ging, uns an unsere Geschichte zu erinnern, für unsere Leistungen gelobt zu werden und hinterher noch mit lieben Menschen zu plaudern, die man vielleicht schon länger nicht gesehen hat. Genau das konnte alles nicht stattfinden, weil wir uns zur Zeit eben nicht versammeln können.
Gerade in den letzten Monaten ist mir umso mehr bewusst geworden, dass die VHS von der Begegnung, oder genauer gesagt, von Ritualen lebt. Das gemeinsame Lernthema bietet dafür die Überschrift und die Form – beides wichtig, aber eben nicht alles, was das Leben in der VHS ausmacht. Das ist eben auch das Tür-und-Angel-Gespräch, dass wir in der Geschäftsstelle mit Teilnehmern und Dozenten führen, der Duft nach Kaffee in unseren Fluren oder die würdevolle Atmosphäre, wenn unsere Zertifikate verteilt werden – wenn alle gut gestimmt und auch ein bisschen stolz auf sich sein dürfen. Das ist der Kuchen, der zum Geburtstag verteilt wird oder vielleicht auch die kleine Neujahrsansprache von mir auf dem Dozentenempfang. Ich muss sagen: je älter ich werde, je mehr werde ich zu einem Fan von Ritualen. Und da wir die gerade nicht mit Ihnen leben dürfen, spüre ich umso deutlicher, wie sehr ich Sie als Besucher und Dozenten vermisse!
Auch wenn es gerade nicht besonders originell ist, möchte ich Ihnen allen für das neue Jahr vor allem „Gesundheit“ wünschen, damit wir uns, wenn es denn wieder möglich sein sollte, wiedersehen und unsere kleinen Rituale zusammen begehen können!
Es grüßt Sie alle herzlich
Ihr Jochen Brems
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