Marco Balzano “Ich bleibe hier”

(Autorin: Mirja Kahle)

2018 – Ich war neugierig

In bunten Prospekten und in Newslettern, mit denen Südtirol Werbung für sich macht, hatte ich Bilder von dem Kirchturm im See gesehen. Ohne Hintergrundwissen und nur mit einem schönen Foto in Planung entschieden wir uns, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Einen ersten Eindruck vom Vinschgau zu bekommen und aus den Dolomiten mit einem Umweg über den Reschenpass zurück nach Deutschland zu fahren. In Graun am Reschensee angekommen, stockte dort der Verkehr.

Wohnmobile und PKWs füllten die Parkplätze, Mountainbiker und Motorradfahrer schlängelten sich quer durch, Familien aßen Eis, Kiter surften auf dem Stausee. Der Kirchturm im See passte nicht zu dieser Sommerfrische. Das Ganze sah so unwirklich aus, so gar nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, einsam passt vielleicht als Wort. Wir hielten nicht.

 

2020 – Die Südtiroler gedenken der 100jährigen „Zerreißung“ Tirols

Der Schützenbund entzündete am 20. Oktober auf dem Timmelsjoch eine Dornenkrone. Im Diogenes Verlag erschien die Novelle des Mailänders Marco Balzano „Ich bleibe hier“ . Ganz prägnant auf dem Einband abgebildet ist der versunkene Kirchturm von Alt-Graun. Als ich das Buch das erste Mal in den Händen hielt, erinnerte ich mich an meine Gefühle von vor zwei Jahren und dachte, dass ich das als Südtirol-Fan natürlich lesen MUSS! Denn als Südtirol-Fan weiß ich auch, wie die Südtiroler mit ihrer Geschichte der letzten 100 Jahre hadern. So haben wir schon gehört: „Wein im Schlauch? Das haben wir nicht, da müssen Sie nach Italien fahren!“ oder jetzt in Corona-Zeiten: „Das bestimmen wir selbst, nicht die da unten in Rom. Wir sind autonom!“ Und jetzt schreibt ein „Italiener“ eine Südtiroler Schmerzensgeschichte? Meine Neugierde war wieder geweckt!

Die Protagonistin Trina erzählt ihre Geschichte, die auch die ihres Mannes, ihrer Freundinnen, ihres Dorfes ist. Sie erzählt diese Geschichte ihrer geliebten Tochter Marica und sucht eine Rechtfertigung für die Entscheidungen des Lebens, für die Zufälle und damit verbundenes Glück oder Leid. Es ist ein Buch voller Hoffnung, Enttäuschung und neuer Hoffnung. Ein Buch der Suche nach Heimat und Identität, von Verlust und Wiederfinden.

1923 – Frühling

Es ist Frühling im Jahr 1923. Trina hat gerade das Lehrer-Examen erfolgreich bestanden. Knapp drei Jahre ist es her, dass Südtirol formal von Italien annektiert worden ist. Seit der Machtergreifung der Faschisten 1922 erfolgt nun die gewaltsame Assimilierung. Trina und ihre Freundinnen lernen voller Hoffnung auf eine Anstellung die fremde Sprache und werden doch übergangen. Ist es mutig oder starrsinnig oder einfach nur normal, dass Wege der Beibehaltung der eigenen Identität, Sprache und Kultur gesucht und gegangen werden? Der Pfarrer hält seine Herde zusammen und startet die Schule parallel zur Schule im Untergrund.

Die Assimilierungspolitik und Nazifizierung tragen dornige Früchte und zerreißen das Dorf, Freundschaften, Familien. Als 1939 zwischen Mussolini und Hitler das Heim-ins-Reich-Umsiedelungsabkommen geschlossen wird, optieren 86 Prozent der Südtiroler für die Umsiedelung. Zwar gehen am Ende bei Weitem nicht alle, aber für die, die ihre Höfe und Heimat nicht aufgeben und bereit sind, für ihr materielles und immaterielles Erbe zu kämpfen, sind sie Verräter. Für die, die gehen, sind die Zurückgebliebenen unverbesserliche Hoffnungslose. Trinas Tochter ist eine der Optanten, entführt von Trinas Schwägerin und deren Mann. Sie hört nie wieder von ihr.

 

Dann ist Krieg

Hier in der Grenzregion zur neutralen Schweiz stellen sich die Menschen die Frage, was das eigentlich mit ihnen zu tun hat. Schließlich müssen die Kühe weiter gemolken und Heu gemacht werden. Die Nerven liegen in der Familie blank, als Trinas Sohn die Nazis unterstützt, weil er darauf hofft, durch Hitler von den Faschisten befreit zu werden.  Trinas Mann kommt verwundet von der Front zurück und begibt sich nach Kriegsende in einen neuen, völlig anderen Kampf: Den Kampf um sein Dorf und gegen den Bau des geplanten Staudamms. Seit 1911 gibt es Pläne, die ursprünglich drei natürlichen Seen zur Stromgewinnung aus Wasserkraft aufzustauen. Zwar startet die Projektplanung in den zwanziger Jahren, erste Arbeiten erfolgen erst ab Ende der dreißiger Jahre, ruhen aber schnell wieder. Zunächst ist von 5m Aufstauung die Rede. Die Bevölkerung bekommt nicht viel mit, da alle Bekanntmachungen nur auf Italienisch erfolgen. Die Hoffnung ist wohl, den Widerstand gering zu halten. Genauso wird die „nicht wesentliche Abänderung“ der Aufstauung auf 22m kommuniziert, der Teile von Alt-Graun und Reschen zum Opfer fallen würden. Nachdem die italienische Firma Montecatini mit einer Schweizer Gesellschaft 1947 einen Deal eingeht, scheint das Schicksal besiegelt. Als die Schweizer Bevölkerung davon erfährt, ist sie empört. Aber auch die zahlreichen Proteste, die Wege zur Landesregierung und sogar zum Papst können das Blatt nicht mehr wenden. Jetzt geht es nur noch um eine angemessene Entschädigung für Höfe, Vieh und Kulturland, die nie kommt. Aber ganz bestimmt wird das Wasser gar nicht so hoch steigen…

1949 – Sommer

Am 1. August 1949 werden probeweise die Schleusen geöffnet. Die Bevölkerung wurde nicht gewarnt. „Eines Morgens entdeckte ein Bauer aus Graun, dass sein Stall einen halben Meter unter Wasser stand. Darauf schwammen die toten Hühner und das zerrupfte Heu. Er lief auf die Straße und fing an zu schreien.

Die Alt-Grauner haben in jenen Jahren mit allen Mitteln gekämpft. Sie haben Gerichte, Politik, Medien und Kirche gerufen. Bis ihre Häuser mit roten Kreuzen markiert und gesprengt wurden. Nur der Kirchturm nicht, der schon unter Denkmalschutz stand. Und der heute nicht nur ein beliebtes Fotomotiv ist, sondern vor Allem auch ein Mahnmal.

 

2020 – Heute

Die Novelle „Ich bleibe hier“ ist kein Geschichtsbuch. Und doch macht sie die Geschichte der Menschen in Graun und ihrer Heimat Südtirol greifbar, sie berührt und erklärt. Der Autor Marco Balzano malt mit ihr literarische Bilder, die teilweise unter die Haut gehen: Trotz der Kürze von gerade einmal 280 Seiten begleiten wir Trina über ein halbes Jahrhundert ihres Lebens. Wir treffen Personen, die es so oder ähnlich tatsächlich gegeben hat, und durch die eine Nähe zu den Graunern geschaffen wird, die über einen simplen Roman hinausgeht.  

Dass ausgerechnet ein Italiener aus Mailand die Geschichte von Graun erzählt, wird übrigens in Südtirol als Zeichen der Versöhnung verstanden.

 

Weitere Infos zum Weiterlesen:

http://www.reschensee.it/index_htm_files/Geschichte-Alt-Graun-04-2015-1.pdf

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